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FAKE NEWS (Kurzgeschichte)

Harald Renner


Bischof und Gräfin?" Er streckte den Rücken. Zu lange hatte er auf auf den Monitor gestarrt.
"Gerne", pflichtete sie ihm bei. "Wer fängt an?"
"Ladies first! Aber nur dreißig Minuten, keine Zugabe."
"Natürlich, und raus! Komm ja nicht ohne Kaffee zurück."

Harry Becker war der älteste "Hase im Stall" des Kulturressorts einer angesehenen Wochenzeitung. Im Wechsel mit seiner Kollegin Simone Niemeyer betreute er die Kolumne "Und nichts als die Wahrheit", auch bekannt als "Mutter aller fake news". In einer Stunde würden die Kollegen entscheiden und bald auch die Leser, wer diesmal die Nase vorn hatte mit seiner haarsträubenden Geschichte. Es galt die eiserne Regel, dass der Autor sich kurz halten musste. Kein unnötiges Wort wurde verziehen. Maßstab blieb die "kürzeste Kurzgeschichte aller Zeiten", hervorgegangen aus einem internationalen Wettbewerb. Drei Bedingungen waren für die Story zu erfüllen: Sie musste in vornehmen Kreisen spielen und etwas Religiöses und etwas Erotisches enthalten. Den hoch dotierten ersten Preis gewann der Autor einer Geschichte, die aus einem einzigen Satz bestand: "Mein Gott, Herr Bischof", sagte die Gräfin, "nehmen Sie doch die Hand von meinem Knie."

Als Simone allein war, schlug sie mit geschlossenen Augen ihr Lieblingsbuch "Grundlagen und Techniken der Schreibkunst" im vorderen Drittel auf. Sie öffnete die Augen. Das erste Worte auf der Seite hieß "Ibsen". Der düstere Dramatiker des Nordens hatte sie schon während des Studiums genervt. Kein guter Einstieg für eine fröhliche Geschichte. Also gab sie "Ibsen" in die Suchmaschine ein und fand als weiteren Vorschlag "Ibbenbueren". Die Volkshochschule des Ortes warb für einen magischen Abend mit "Merlin, dem Meister der Illusionen". Nicht schlecht, dachte sie und schaute auf die Uhr.

Eine halbe Stunde später balancierte Harry zwei Becher Milchkaffee zum Arbeitsplatz der Kollegin. Simone stand auf und überließ Harry ihren Platz, damit dieser das frische Werk bewundern konnte.

Merlin, der Meister der Illusionen in Ibbenbueren, hatte dummerweise den Trick mit der Taube im Zylinder erkennen lassen. Die Täuschung beruht auf der perfekten Ablenkung des Publikums im entscheidenden Moment. Es muss verborgen bleiben, dass eine Taube lange Zeit in einem Beutel versteckt bleibt. Dieser schwarze Beutel ist am hinteren Ende des Tisches befestigt, unsichtbar vor dem schwarzen Hintergrund. Der Zauberer hebt seinen Zylinder und zeigt, dass er leer ist. Es gehört Übung und Geschicklichkeit dazu, die Taube mit einer fließenden Bewegung aus dem Beutel und in den Hut zu bugsieren, bevor ihn der Magier wieder aufsetzt. Den Rest kennt jedes Kind. Der Zauberer lüftet erneut den Hut, und eine lebendige Taube flattert durch den Saal.

Ein pensionierter und stets gereizter Biologielehrer war bekannt als militanter Tierschützer. Ihn ärgerte, dass er ganz links in der ersten Reihe sitzen musste. So entging ihm nicht, wie der Trick funktionierte -so einfach und banal, und so quälend für die eingesperrte Taube! Er ließ in den folgenden Wochen nicht locker, um den enttarnten Zauberer an den Pranger zu stellen - und mit ihm alle Magier, die Tauben aus ihren Hüten zaubern. Die Öffentlichkeit reagierte empört. "Free the dove!" wurde zum gefeierten Schlagwort.

Ein investigativer Journalist recherchierte den Skandal und erfuhr, dass ein Zauberer in Sonthofen nicht länger mit einem lebenden Tier, sondern mit einem echt wirkenden Imitat aus Polyethylen arbeitete. Der Journalist verriet die Baupläne der Drohne, die dem Kunstvogel zum befreienden Flug verhalf. Er hatte allerdings nicht mit so vielen rohen Beschimpfungen gerechnet, die nun über ihn hereinbrachen. Selbst Morddrohungen waren darunter. Die Lektion schmerzte ihn sehr: Nicht nur Biologielehrer, sondern auch Magier waren militant und leicht zu erregen. Zaubertricks verraten, das ging gar nicht.

"Ist die Story gut, oder ist sie gut?", fragte Simone.
"Daraus lässt sich etwas machen, fehlt aber noch die Pointe."
Sie lächelte. "Ich habe schon fünf Ideen, eine besser als die andere."
Harry wusste, dass das stimmte. Er wies mit einem Nicken zur Tür. "Jetzt bin ich an der Reihe."

Er hatte hatte bei der Suche mit geschlossenen Augen "Constanze Mozart" gefunden, die Frau des unsterblichen Komponisten. Besser gefiel ihm der "Lake of Constance", den die Suchmaschine anbot. Bei YouTube fand er unter diesem Sichwort einen verwackelten Videoclip. Drei Jungen versuchten, auf dem Wasser zu wandeln, dem großen Vorbild folgend. Einige durchsichtige Plastikkisten schwammen auf der See - mit der Öffnung so nach unten gedreht, dass sich Luft in den Hohlräumen ansammelte. Gut in der Theorie, ungeeignet in der Praxis. Die Performance fiel buchstäblich ins Wasser. Kein Quotenhit bei YouTube, aber eine gute Vorlage für Harry.

In seiner Geschichte fielen die Jungen nicht ins Wasser, sondern balancierten geschickt auf den Kisten, bis sie eine plötzlich auftauchende Nebelwand verschluckte. Von den Jungen wurde nie wieder etwas gesehen.
Drei Zuschauer waren Zeugen des Geschehens. Sie stellten es sehr unterschiedlich dar. Eine alte Dame im Rollstuhl schwor, dass sie im Nebel die Umrisse dreier Segel gesehen hatte, von einer Dreimastbarke vielleicht. Das Schiff war von der glatten See verschwunden, als sich der Nebel lichtete. Die Nichte der alten Dame, die ihren Rollstuhl schob, erinnerte sich daran, dass im Dunst oszillierende Lichter in verschiedenen Farben zu erkennen waren. Ähnliches hatte sie in der Serie "Raumschiff Enterprise" gesehen. Ein junger Mann gab zu Protokoll, dass außer Nebel gar nichts zu sehen war, weder Segel noch Lichter. Aber auch er hatte eine interessante Theorie. "Cui bono?" fragte er. Wer profitierte am meisten von der Entführung der Jungen? Vielleicht waren sie ja begabte Hacker mit wertvollen Erfahrungen im Cyberkrieg. Welcher befreundete oder gegnerische Geheimdienst hatte wohl Interesse an ihren Algorhythmen?

Simone las die Geschichte aufmerksam durch. "Du hast auch noch keine Pointe", freute sie sich.
"Ich kann die ja dem Leser überlassen, oder?"
"Auf keinen Fall!", protestierte sie. "Da fühlt sich jeder im Stich gelassen. Es muss noch ein Kracher her. Ein Witz vielleicht? Etwas, das zum Wassergehen passt?"

Harry dachte angestrengt nach.
"Wie findest du das: Ein eitler Politiker, dessen Selbstüberschätzung allgemein bekannt war, dankte Gott dafür, dass er ihn mit so vielen beispiellosen Talenten ausgestattet hatte - bis auf eines, das er noch nicht besaß: Er konnte nicht auf dem Wasser wandeln. Gott war gnädig, gewährte die Bitte, und der Staatenlenker konnte fortan über die Wogen schreiten. Zwei Angler, die den Politiker aus den Medien kannten, aber nicht mochten, beobachten stirnrunzelnd das Schauspiel. Sagte der eine zum anderen: Siehst du, der kann nicht einmal schwimmen!"

Simone lächelte. "Warum sprechen wir immer von der Mutter aller fake news? Eitle Selbstüberschätzung - das ist doch ein männliches Privileg."

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